Lachsspringen

 

 

Ashley

Er kann seinen Blick nicht von ihrem Fuß abwenden, den ein schlichter Pumps verhüllt. Das rote Ende ihres übergeschlagenen Beines wippt unregelmäßig. Von dem leichten Schlingern des Waggons kann es nicht rühren, nicht im Takt. Eine Angewohnheit? Nervosität? Gar seinetwegen? Oder wegen des Buchs, in dem sie gerade liest?

Er versucht sich vorzustellen, wie sich der elegante Schwung der Fessel unter dem weichen Leder fortsetzen mag; er beugt sich etwas vor und versucht sich an einem Röntgenblick. Der misslingt. Er lehnt sich wieder zurück und beobachtet, wie sie, an ihrer Umgebung desinteressiert, in ihrem Buch liest. Ein Teil ihres Gesichts und die mehr als schulterlangen Haare spiegeln sich im Fenster. Er sieht, wie ihre braunen Augen den Wörtern nachhüpfen und dabei immer tiefer wandern. Ein warmes Gefühl von Vertrautheit breitet sich in seiner Brust aus. Und das Bedürfnis, sie zu berühren.

»Sie würden mir eine große Freude bereiten«, machen sich seine Lippen selbstständig, »wenn ich Ihren Fuß massieren dürfte.«

Sie lässt ihr Buch eine Handbreit sinken und blickt ihn an. Ihr Körper schlingert sanft im Rhythmus des Tschuschuk-Tschuschuk, mit dem der Zug jedes neue Schienenstück in Angriff nimmt.

»Meinen Fuß massieren?« Eine Augenbraue ist in die Höhe gewandert und ihre Lippen kräuseln sich. Wunderschöne Lippen, denkt er. Wie sie sich anfühlen mögen? Mit der freien Hand greift sie zu der orangefarbenen Kette im großzügigen Ausschnitt ihres schwarzen Wickelkleides und beginnt, mit den kleinen Kugeln zu spielen. »Sind Sie Masseur und unglücklich, wenn Sie nicht arbeiten können?« Ihre Worte hören sich für ihn an wie das verhaltene Kullern runder Steine über das Fell einer Trommel. Er spürt, wie sie durch die Ohren in seinen Bauch fallen.

»Nein; ich möchte lediglich gerne erfahren, wie sich Ihr Fuß anfühlt. Nicht das Bein, nur der Fuß. Genau der rechte, der so verspielt vor mir hüpft, wenn es möglich ist.«

Sie blickt ihn unverwandt an. »Gut«, sagt sie nach einer Weile.

Er setzt sich auf ihre Seite, einen Sitz zwischen ihnen freilassend. Wortlos dreht sie sich nach links und streckt ihm das rechte Bein entgegen. Behutsam streift er den roten Schuh ab und stellt ihn vor ihr auf den Boden. Sanft nimmt er ihren Fuß in beide Hände und beginnt mit der Massage. Seine Finger gleiten über ihren Rist, ihre Zehen, ihren Mittelfuß.

Sie lässt ihr Buch in ihren Schoß sinken, darin einen Finger als Lesezeichen. Mit der anderen Hand fasst sie eine Strähne ihrer kastanienbraunen Locken und wickelt sie um den Zeigefinger. Ihr Blick wandert unscharf hinauf zum Gepäcksnetz.

»Wie heißen Sie?«, fragt sie das Netz.

»Maria.«

Die Haarsträhne entgleitet ihren Fingern und fällt zurück auf ihr Schlüsselbein. »Maria?«

»Ja, Maria. Meine Eltern werden wohl vergessen haben, dass davor ein sinnvoller Rainer oder Klaus oder Erich gehört. Nun ...«, ergänzt er nach kurzem Zögern, »eigentlich steht zuerst ein ›Hektor‹. Doch da ist mir Maria noch lieber. Und Sie?«

»Ashley«, antwortet sie.

»Ein schöner Name.« Er legt den Kopf schief. »Kein österreichischer.«

»MeineMutter stammt aus Großbritannien.«

»Ah ...« Während des Gesprächs hat er die Zuwendung zu ihrem Fuß nicht unterbrochen. Er knetet zart ihre Muskeln, streift sanft, doch bestimmt über die dünne, seidenartige Hülle über ihrer Haut.

»Wie eine Lymphdrainage.« Ihr Lächeln lässt kurz zwei gleichmäßige Zahnreihen erkennen.

»Es ist aber keine. Es fühlt sich für mich fast an wie eine Droge. Ich genieße die Kommunikation mit Ihrem Fuß.«

»Was teilt er ihnen mit?«

»Warten Sie ... er sagt mir, dass er froh ist, ihrem Körper räumliche Unabhängigkeit geben zu dürfen. Und er freut sich, das Bindeglied zwischen Ihnen und Mutter Erde zu sein.«
Als ob sie beim Tagträumen ertappt worden wäre, strafft sie sich, die Falten auf ihrer Stirn tauchen wieder auf, doch die Mundwinkel bleiben, wo sie sind. Sie zieht ihren Fuß zurück und lässt ihn in den Schuh am Boden gleiten.

»Sie denken jetzt, dass bei mir ein paar Schrauben locker sind?« Er lächelt sie an. Er sagt auch das so beiläufig, als ob es ebenfalls das Normalste der Welt wäre, mit lockeren Schrauben durchs Leben zu gehen.

»Nun ja ...«, murmelt sie.

»Das ist doch verständlich, nicht wahr? Sie kennen mich nicht, haben mich noch nie gesehen, und dann bitte ich Sie gleich um etwas so Intimes wie ihren Fuß massieren zu dürfen.«

 

Sie zieht die Brauen zusammen und betrachtet ihn. Dann fällt ihr auf, dass sie ihn vielleicht wie eine Museumsbesucherin betrachtet, die das Exponat einer neu entdeckten Vogelgattung in Augenschein nimmt, und sie entspannt ihre Züge. Andererseits: und wenn schon!

Optisch würde man ihm nicht anmerken, dass er zu so seltsamen Ideen fähig ist. Jeans, ein blaues T-Shirt, eine altmodische Wildlederjacke. Dunkelbraune, dichte, mittellang geschnittene, verwuschelte Haare, volle, aber bestimmte Lippen, kantiges Gesicht. Unrasiert oder Dreitagebart? Völlig normal, ja sogar ein wenig konservativ. Aber sieht man nicht gerade den wirklich gefährlichen Typen ihre Neigungen eben nicht an? Ein Psychopath? Ein Fußfetischist? Vielleicht etwas Schlimmeres? Was soll denn der Quatsch! Hat sie so etwas schon jemals gestört? Er hat was! Mal etwas anderes. Keiner von diesen geschniegelten Möchtegern-Casanovas oder den gespielt lockeren Freizeitklamottenträgern. Ob er sie als Experiment betrachtet? Das könnte man auch umdrehen!

»Warum tun Sie das? Um Leute zu verunsichern?«

»Oh nein, auf keinen Fall!«, wehrt er ab.

Er scheint ehrlich entrüstet zu sein. Sie spürt ein Ziehen in der Magengegend, kann es nicht einstufen. Und zugleich findet sie die Situation prickelnd. Entweder hat er es faustdick hinter den Ohren oder er spielt ihr tatsächlich nichts vor.

»Ich tue nur das, wovon ich spüre, dass es gerade passt«, sagt er.

Sie sieht ihn stirnrunzelnd an. Schüttelt kaum merklich den Kopf.

»Und Sie haben wahrgenommen, dass Sie meinen Fuß massieren sollen.«

»Ja.« Er blickt freundlich-gelassen, sie forschend.

»Ich mache das, was mir im Augenblick Freude verschafft.«

»Und was bereitet Ihnen gerade Freude?« Seine Mundwinkel zucken und sie wehrt sofort ab: »Nein, sagen Sie jetzt nicht ›Füße massieren‹!«

»Können Sie Gedanken lesen?«

Nun heben sich doch ihre Mundwinkel, in ihren Augenwinkeln springen fächerförmig ein paar Fältchen auf und ein Blitzen hüpft aus ihren Augen. »Sie sind ein echt durchgeknalltes Exemplar Mann!«

»Finden Sie? Ich finde Sie äußerst sympathisch! Unkonventionell. Natürlich und intelligent und - sehr anmutig.«

»Danke.« Für sie ist es nichts Neues, als attraktiv bezeichnet zu werden. Und doch irritiert sie wiederum etwas Ungewöhnliches: Als anmutig hat sie noch nie jemand beschrieben. Sie spürt eine unerklärliche Traurigkeit in sich aufsteigen. Sie spürt, wie ihr Lächeln langsam verlischt.

 

Ohne Voranmeldung donnert ein Gegenzug vorbei und füllt das Abteil mit hektisch-rhythmischem Lärm. Beide blicken in die Blitze, die die Fenster des anderen Zuges hereinwerfen. Im tanzenden Spiegel des Fensters erkennt er, dass sie ihre Augen leicht zusammengekniffen hat. Ihr Blick entdeckt seinen, zittert und wendet sich ab.
Mit einem letzten scharfen Zischen gibt der andere Zug die Sicht auf die noch winterbraune Märzlandschaft wieder frei.
Während sie weiter hinausschauen, spürt er den Gefühlen in sich nach, diesen zarten Fäden, die von ihm zu ihr hinüberziehen. Er glaubt, Resonanz wahrzunehmen. Ist er zu weit gegangen? Hat er sie verstört? Das mit Mutter Erde war keine gute Idee, auch wenn er es genauso fühlte. Aber sie kennt ihn schließlich nicht. Weiß nicht, wie er denkt. Vielleicht tut sie solche Gedanken als Spinnerei ab. Es muss so sein, so, wie sie reagiert hat.

Ihre Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken. »Ich meinte eigentlich, womit Sie ihren Lebensunterhalt verdienen.«

Er braucht einen Augenblick, um wieder zurückzukehren. »Das ist unterschiedlich.« Sie ist außergewöhnlich! Nein, sagt er zu sich, es war nicht zu viel. Grenzwertig vielleicht. Aber nicht zu viel. Er spürt, wie er ruhig wird, in den Fluss kommt. »Meistens tue ich tatsächlich, was mir im Moment Freude macht. Das ist mir wichtig! Was habe ich denn davon, wenn ich mich acht, neun Stunden zu einem Job überwinde, nach dem Feierabend lechze, um mir so das Geld zu erschuften, das ich dann in meiner Freizeit mit dem durchbringe, was mir Freude macht? Ist doch widersinnig, finden Sie nicht?«
»Schön, wenn Sie das können.« Sie verschränkt die Arme vor der Brust, ihre Lippen sind schmal geworden. »Für kaum jemanden ist das machbar.«

Ah! Er lächelt in sich hinein. Sie sieht so bezaubernd aus, wenn sie sich ärgert!

»Ich vermute, die wenigsten wollen das.«

Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Wie meinen Sie das?«

»Ich glaube, dass kaum jemand Gedanken daran verschwendet, was er in Wirklichkeit will. Die meisten denken vielmehr darüber nach, wie sich möglichst viel verdienen lässt, um in der Folge damit das machen zu können, was sie gerne tun. Abgesehen von denen, die nicht einmal das wissen. Ich finde, es geht einfacher.«

»Und zwar ...?« Ihre Brauen nähern sich und sie beugt sich vor.

»Tun.«

Sie atmet hörbar aus und lehnt sich wieder an die lederne Rückenlehne. »Dann halt noch genauer: Womit verdienten Sie ihr letztes Geld? Zum Beispiel das, mit dem Sie die Fahrkarte bezahlt haben?«

Sie wirkt wie jemand, der schon mehrmals eine sehr simple und offensichtliche Sache vergeblich zu erklären versucht hat.

»Ich habe eine App für ein Handy geschrieben.« Er lächelt und ihre Augen werden größer.

»Eine App? Für ein Handy? Und davon kann man leben?« Sie sieht ihn an, als wollte sie antworten: Ja, ja, und ich habe meine erste Million mit Sackhüpfen gemacht.

»Ja. Wenn man das Passende trifft.«

Sie schüttelt kaum merklich den Kopf, schaut auf ihre Armbanduhr und dann nach draußen.

»Wohin fahren Sie«, fragt er. Sie steigt schon aus? Schon zu Ende?

»Amstetten«, sagt sie, »ich besuche dort eine Tante. Und Sie?«

»Keine Ahnung. Ich bin unterwegs nach Westen.«

Sie sieht mit den Augen zur Decke und verzieht die Lippen. »Unverkennbar, wir kommen schließlich aus Wien. Wohin im Westen?« Die letzten drei Worte klingen wie die einer Mutter, die ihren Dreijährigen fragt, ob er nun endlich aufessen will.

»Ich weiß es noch nicht.«

Sie blickt wieder aus dem Fenster, draußen gleiten die Hallen des Doka-Geländes vorbei. Maria fragt sich, ob sie entnervt, enttäuscht oder gelangweilt ist. Der Zug drosselt das Tempo. Sie steht auf; bleibt zögernd stehen; bückt sich zu ihrer Handtasche. »Es war interessant, Sie kennenzulernen. Vielleicht ... treffen wir uns einmal wieder?«

»Ja.« Er blickt zu ihr auf. Dann erhebt er sich. Ihr Gesicht ist keine Armeslänge von ihm entfernt. Ein Duft nach Apfelblüten weht zu ihm herauf und ihre Augen scheinen ihm dunkler als zuvor. Er macht einen Schritt auf sie zu und fühlt ihre Wärme. Leicht berührt er ihre Oberarme, beugt sich vor und haucht ihr je einen Kuss auf beide Wangen. Sie erstarrt. »Ja, ich habe es auch genossen! Es war sehr ... im Gleichklang!«, sagt er. Ein Kloß macht es sich in seinem Hals gemütlich.

Sie gleicht lediglich das leichte Rucken des Bremsvorganges aus, ihre Augen sind vielleicht noch etwas dunkler. Sie verharrt einen weiteren Augenblick, öffnet schließlich die Schiebetüre einen Spalt.

»Also dann ...« Zögernd blickt sie ihn an.

»Ich freue mich, wenn wir uns wiedersehen sollten!«, sagt er. Sie erwacht aus ihrer Erstarrung, schiebt die Kabinentür völlig auf und tritt auf den Gang hinaus.


Das Palmblatt

Maria sieht aus dem Fenster, als der Zug wieder anfährt. Was hat mich veranlasst, mich von Ashley auf eine Weise zu verabschieden, als ob wir uns bald wieder träfen? Das kann doch in einer Millionenstadt gar nicht geschehen! Zumal ich nur ihren Vornamen kenne ...

In dem Augenblick, sinniert er weiter, als sie sich anschickte zu gehen, wäre ihm die Frage nach einer Telefonnummer oder Mailadresse sogar absurd vorgekommen. Als ob diese Option gar nicht zur Verfügung gestanden wäre. Nein, das traf es nicht. Es war das Gefühl der Vertrautheit, das ihn diese Frage nicht stellen ließ. Eine Verbundenheit, die er nur als das Ergebnis jahrelanger Gemeinsamkeit kennt. Wenn man eben mal aus dem Haus geht, um Brötchen zu kaufen, fragt man ja auch nicht nach der Telefonnummer seiner Freundin, die inzwischen den Kaffee aufsetzt.

Die Stimmigkeit dieses Vergleichs lässt ihn den Kopf schütteln. Er wedelt mit der Linken fächerartig vor seiner Stirn. »Was hab ich nur für einen Vogel ...«, brummt er dabei.

»So ein Quatsch«, murmelt er gleich darauf halblaut, als ob er sich selbst davon überzeugen wollte, alles wäre in Ordnung und nur seine Wahrnehmung ein bisschen aus der Spur. Dann seufzt er. Bei allen mag das funktionieren, bei mir nicht. Da habe ich mich bereits viel zu weit aus dem Fenster gelehnt, was Beobachten, Fühlen und Zeichenlesen betrifft. Ab einem bestimmten Zeitpunkt gibt es kein Zurück mehr. Mit diesen Gedanken findet er sich wieder am Beginn des Im-Kreis-Denkens, wobei er gleichzeitig dieses Unbehagen in sich aufsteigen fühlt. Ein Unbehagen aus Hilflosigkeit und

Ausgeliefertsein, von dem er weiß, dass es wieder in dem Gefühl von Versagen münden wird. Er spürt, wie in seinem Hals ein Kloß Form annimmt.

Soweit darf es nicht kommen! Maria steht mit einem Ruck auf, die Lippen schmaler als sonst, die Züge emotionslos. Sein Ziel ist der Speisewagen.

 

Lediglich direkt beim Eingang sitzt ein Mann mittleren Alters, mit Anzug und offenem Hemd bei einer Tasse Kaffee und tippt, den Kopf zu seinem Notebook gesenkt. Maria wählt einen entfernten Tisch.

Der junge Kellner, den Maria auf etwa achtzehn schätzt, lehnt in sich zusammengesunken an der Edelstahltheke, was so gar nicht zu seinem weißen Hemd, der schwarzen Hose und Weste und dunkelroten Krawatte passt, und sieht blicklos herüber. Als Maria Platz genommen hat, atmet der junge Mann hörbar aus, wächst in seine Normalstatur, stößt sich ab und schlendert herüber. Dabei blickt er aus dem Fenster.

»Guten Tag, was darf’s sein?«

Als am Satzende der Frage seine Stimme fast in ein Stöhnen absackt, anstatt sich zu heben, fühlt Maria eine Mischung aus Mitgefühl und Widerwillen.

»Bring mir doch bitte einen Kaffee.« Rechtzeitig wird er sich mit einem Schaudern bewusst, dass es hier um ÖBB-Kaffee geht. »Oder hast du einen Espresso?«

Die Art, wie der junge Mann zurückschlurft, lässt Maria hoffen, dass er nicht unterwegs vor Langeweile zusammenbricht. Trotzdem findet er den Ober sympathisch.

»Machst du deinen Job gerne?«, fragt er ihn, als er mit dem Espresso zurückkehrt und ihn vor ihm abstellt.

»Mit irgendwas muss man ja sein Geld verdienen.« Sein Körper versteift sich und sein Blick wird finster.

»Ich will damit nichts Bestimmtes sagen, nur: Macht dir diese Arbeit Spaß? Machst du sie gern?«

»Na ja ...«, sagt der junge Mann gedehnt, atmet aus und lässt die Schultern sinken. Er hängt einen Daumen in die Hosentasche und knickt noch ein Stück mehr in sich zusammen.

»Warum widmest du dich dann nicht etwas anderem?«

Der Kellner zuckt mit den Schultern. »Ist doch egal, Hauptsache Kohle machen.«

»Wäre es nicht angenehmer, wenn es auch Spaß machen würde?«

»Angenehmer?« Der junge Mann schnaubt verächtlich. »Seit wann ist Geldverdienen angenehm? Es gibt keine Jobs, die Spaß machen!«

Maria betrachtet den jungen Mann vor sich, er kommt ihm deplatziert vor in seinem förmlichen Gewand.»Was würdest du gerne tun? Einfach mal so ins Blaue geträumt, ganz ohne einen Gedanken ans Geldverdienen oder was geht und was nicht.« Ein wärmendes Gefühl durchströmt Maria und einen Augenblick lang kommt es ihm so vor, als hätte er seinen eigenen Sohn vor sich stehen.

»Pfh ...« Bei aufgeblasenen Backen bläst der andere Luft durch die Lippen, tritt von einem Bein aufs andere. »Keine Ahnung ... weiß ich echt nicht.«

»Befindet sich jemand im Zug, der dich beaufsichtigt?«, fragt Maria.

Die Augen des Kellners verengen sich ein wenig und er nimmt den Kopf zurück. »Äh ... nein. Warum?«

»Hast du noch viel Unerledigtes?«

»Nein ...!« Er zieht die Brauen zusammen.

»Okay, ich lade dich ein. Was magst du?«

Des anderen Züge glätten sich und die Brauen gehen nach oben. »Cola light?«

»Okay, dann bis gleich.«

»Eigentlich darf ich das nicht ...« Der junge Mann zögert.

»Ich weiß. Aber wenn keiner zur Kontrolle da ist und du mit der Arbeit nicht hinten bist?«

Der Ober wackelt mit dem Kopf hin und her, gibt sich einen Ruck, holt sich sein Getränk und setzt sich auf die Ecke der Bank Maria gegenüber.

»Also, wofür brennt dein Herz?«

Der Kellner schaut so lange leer in die Tischplatte, dass Maria schon annimmt, er hätte die Frage nicht gehört. Doch plötzlich blickt er auf, als ob er eben aufgewacht wäre und lächelt. »Reisen ... reisen und darüber schreiben. Das würde mir gefallen!«

»Ah ja«, sagt Maria und betrachtet sein Gegenüber. Der sitzt aufrecht und leicht nach vorne gelehnt da und Maria glaubt, den Ansatz eines Leuchtens in seinem Gesicht zu sehen. »Was hindert dich, es zu tun?«

Der Körper des anderen verliert an Spannung und sein Gesicht scheint um ein paar Grade dunkler zu werden. »Dafür brauch ich doch zuerst Geld. Das ist nicht so einfach.«

»Ich werde dir jetzt eine Geschichte erzählen«, beginnt Maria und beobachtete das Mienenspiel seines Gegenübers. »Als ich zweiundzwanzig war, habe ich das Studium geschmissen, hat mir nicht mehr gefallen.«

»Okay ...«, lautet die gedehnte Antwort. »Ich kann mir aber ein Studium gar nicht leisten!«

»Um das geht’s ja gar nicht«, sagt Maria und winkt etwas ungeduldig ab, »es geht nur um eine Geschichte, meine Geschichte; als Beispiel. Okay?«
Andeutungsweises Nicken.

»Ich komme zwar aus sogenannten behüteten Verhältnissen - Vater Uni-Prof und Mutter Übersetzerin - aber das sagt nicht viel. Das Geld hat mir nicht weitergeholfen. Du siehst, das Studium hatte ich abgebrochen, weil es mir keinen Spaß gemacht hat.«

»Da haben Sie eine ganz andere Position gehabt«, unterbricht der junge Kellner. »Sie konnten entscheiden, was Sie wollten. Das kann ich nicht. Ich muss nehmen, was ich bekomme.«

»Du brauchst mich nicht zu siezen. Ich heiße Maria.« Auf die erstaunte Reaktion des andern geht er nicht ein, hat keine Lust, wieder seine Maria-Geschichte vom Stapel zu lassen.

»Klaus.« Sie reichen sich die Hand.



»Genau das will ich dir mit meiner Geschichte zeigen: Geld macht es nicht einfacher, seinen Weg zu finden. Also: Anschließend fand ich einige recht brauchbare Stellen, Bürokram und Verkauf. Keine hat mich vom Hocker gerissen, obwohl es mit der Bezahlung stimmte. Ich kam mir trotzdem leer und unausgefüllt vor. Das ist es alles nicht, dachte ich mir, aber was dann? Ich ließ die Jobs bleiben und reiste ein halbes Jahr quer durch Asien. Das Geld ging mir bald aus, denn ich hatte nur eine kurze Reise geplant gehabt, um den Kopf klar zu bekommen. Doch etwas in mir sagte, dass ich noch nicht zurückkehren konnte. Ich hatte noch keine Antwort gefunden. Also jobbte ich da und dort. Irgendwas findet man immer. Wenn du unterwegs bist, triffst du in einer Tour neue Leute. Einer davon war ein Ami, aber frag mich nicht, von wo genau. Der erzählte mir etwas von sogenannten Palmblatt-Bibliotheken, von denen die meisten in Indien sind. Schon was gehört davon?«

»Palm-was? Nö.«

»Zuerst kam mir das auch kryptisch vor, als mir Josh - also der Ami - davon erzählte. Er sagte, dass vor rund siebentausend Jahren sogenannte Rishis den Lebensweg von mehreren Millionen Menschen auf Stechpalmenblätter schrieben, die dann in eigenen Büchereien verwahrt worden wären. Es solle in Indien zwölf solcher Palmblatt-Bibliotheken geben. Man könne diese besuchen und bekäme Informationen zu seinem Leben.«

Der Kellner blickt Maria mit gerunzelten Augenbrauen an, der Zweifel steht in dicken Lettern quer über sein Gesicht geschrieben.

Maria grinst. »So hab ich damals auch dreingeschaut und mir gedacht, was in drei Teufels Namen soll das denn? Da soll wer vor einigen Tausend Jahren was über mich aufgeschrieben haben? Aber vielleicht bekomme ich ja genau von dort meine Antwort.

Okay, ich machte mich auf die Suche nach einer solchen Bibliothek und fand auch eine. Man kann aber nicht einfach hingehen, wie in ein Restaurant, und einmal Palmblattlesen bestellen. Zuerst brauchst du einen Termin und gibst bei der Vereinbarung dein Geburtsdatum an. Dann bekommst du Bescheid. Hast du was über Indien gelesen oder gehört? Fotos gesehen?«
Klaus schüttelt den Kopf.

»Indien ist für unsereinen schwer zu verstehen. Du findest zum Beispiel Hightech in fünfzig Stockwerken neben Wellblechhütten und eine Tempelanlage in Gold und Weiß, alles an einem Flusslauf nebeneinander aufgefädelt. An einem Fluss, in dem Fischer- und Marktboote gerudert werden. Und das alles praktisch Wand an Wand. Indien ist heiß und es gibt viel Staub. Zwischen Fußgängern und quer über die Straßen staksen magere Kühe. Dunkle Männer in zerschlissenen Arbeiterklamotten, dann wieder Frauen mit farbenprächtigen Saris. Motorradrikschas, die stockwerkhoch überladen sind, und Busse, an denen Menschen in Trauben hängen. Am Straßenrand ein Stand auf Rädern, wo du was zu essen bekommst, daneben eine Kuh und Staub. Reich, arm, grau, bunt - ein für uns wahnwitziger Mix. Draußen auf dem Land ist es eher nur staubig, weniger bunt, weil einfach nicht so viele Leute dort sind.

Nach einer Weile fand ich schließlich die Bibliothek. Ein sauberes Häuschen mit ein paar Holzstangen als Zaun davor, auf einer Seite ein Baum, der wie eine Akazie aussah, und auf der anderen eine räudige Palme. Drinnen zwei Inder, der eine der Nadi-Reader, der andere der Übersetzer. Den Nadi-Reader hätte ich mir auch gut als Beamten vorstellen können in seinem weißen Hemd und den hellen Hosen. Der weiße Punkt mit rotem Zentrum mitten auf der Stirn war in Indien keine Außergewöhnlichkeit. Da sah der Übersetzer schon mehr zur Situation passend aus. Zu seiner ebenfalls dunkelbraunen Hautfarbe war sein weißer Bürstenschnitt ein Kontrast, aber das Auffallendste eine gelbe Masse, die er auf seine Stirn gestrichen hatte, auf der ein paar Verzierungen in Rot prangten.
Ich kam mir vor wie bei einem Verhör, beobachtet, beurteilt. Der Nadi-Reader griff in eine Schublade seines Schreibtischs und holte einen Stapel Holzblättchen heraus, so dünn wie Furnier. So sehen die berühmten Palmblätter also aus, dachte ich mir. Der Stapel war von einem roten Wollfaden umwickelt, den er wedelnd entfernte. Anscheinend hatte er mit einem Griff das richtige Blatt erwischt. Er verglich noch ein paar Daten, schrieb was auf, rechnete ein wenig und begann dann auf Tamilisch von dem Blatt zu singen.«

»Singen?«, fragt Klaus, kratzt sich am Kopf und kneift Mund und Augen zusammen.

»Ja, singen. Hört sich ein bisschen an wie der Pfarrer in der Kirche. Aber melodischer.« Maria muss bei dem Vergleich grinsen. Hörte sich in Wirklichkeit völlig anders an. »Aber ich fand, dass der Singsang gut passte zu den Sanskrit-Schnörkeln auf den Stechpalmenblättern. Der Übersetzer erzählte mir in einem Englisch, das eigentlich auch noch einen Übersetzer gebraucht hätte, was der Reader sagte. Ganz zu Beginn des Readings checkte er einige Daten aus meinem Leben: Mein Vater war gestorben, als ich zehn war. Ich hatte einen Mopedunfall mit siebzehn. Ich hatte mein Studium geschmissen, ja und ich hatte anschließend kürzere Jobs. Es stimmte tatsächlich alles. Das beeindruckte mich dann doch.

Schließlich kam der Inder in Fahrt, las und guckte und las und schwieg. Irgendwann blickte er doch auf und empfahl mir, ich möge stets den Weg meines Herzens gehen. Ach ja, und ich solle auf die Zeichen achten. Wenn ich das tun würde, dann stünden mir hohes Alter und Glück bevor. Ich schaute ihn erwartungsvoll an, wie es nun weiterginge. Aber da kam nichts mehr. Das war’s gewesen. Ja, das war doch tatsächlich alles!

Dafür das ganze Prozedere mit Anmelden und dem restlichen Kram?, dachte ich mir. Ich war einigermaßen sauer, denn diese Antwort passt ja zweifellos zu jedem und allen, nicht wahr? Ich vergaß diesen Besuch schnell wieder und kam drei Monate später nach Hause. Kaum war ich daheim, pilgerte ich in das Café, in dem wir früher immer zusammengekommen waren. Wir, das waren Freunde, manche davon Kommilitonen. Ob ich wohl jemanden antreffen würde?, fragte ich mich. Was sollte ich sagen? Obwohl ein halbes Jahr vergangen war, traf ich alles nahezu unverändert an. Das große Hallo, als ich eintrat, tat mir unglaublich gut. Und dann - ja dann begann eine seltsame Geschichte ...«

Klaus hat interessiert zugehört. Als ob er nur darauf gewartet hätte, dass Maria eine Pause macht, wirft er ein: »Ich kann mir so eine Reise gar nicht leisten.«

Maria spürt, wie Ärger in ihm aufsteigt. »›Ich kann nicht‹ scheint so ein Standardspruch von dir zu sein.« Er klingt leicht gereizt. »Wer hat dir denn den eingeimpft? Warum kannst du nicht?«

»Weil man halt für alles Geld braucht.«

»Du mit deinem ewigen Geld ...«, murmelt Maria und atmet tief aus. Es kribbelt in seinem Bauch und er hätte gern mehr gesagt. Zum Beispiel Klaus gefragt, warum er denn ständig Gegenargumente sucht. »Okay, du brauchst doch für sowas kein Millionär zu sein! Glaub mir, wenn du das gefunden hast, worauf du wirklich scharf bist, wirst du automatisch Wege finden, auf denen das notwendige Geld zu dir kommt! Immer, wenn du bemerkst, dass du sagst ›Ich kann das nicht‹ oder ›Das geht nicht‹, dann solltest du hellhörig werden und es gleich umdrehen in ›Ich kann‹ und ›Es geht‹. Du verbaust dir so jede Möglichkeit, dass etwas klappen kann, wenn du von vorneherein sagst, dass es nicht möglich ist! Glaub mir, ich hab das auch lernen müssen ... Magst du die Geschichte fertig hören?«

Der Kellner Klaus schaut in die Runde, es sind keine neuen Gäste aufgetaucht. »Ja, klar!«

»Also«, beginnt Maria ...