Nur sieben Worte I - Begegnung

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Sieben Worte, die das Leben verändern - eine Liebesgeschichte, die die Zeit besiegt.

Teil 1 - 1960er: Bernhard lebt für seinen Beruf und sein großes Umweltprojekt. Er will etwas Herausragendes leisten, einen Abdruck in der Geschichte hinterlassen. Margot flieht vor ihrer brutalen Vergangenheit, aus der sie einen Schluss gezogen hat: nie wieder ein Mann. Doch niemand kann seiner Bestimmung entfliehen. Wo Teil 1 endet, werden Teil 2 und auch Teil 3 beginnen. Allerdings werden sie völlig unterschiedlich verlaufen - bedingt durch eine Kleinigkeit: Sieben Worte.

Ein Roman über Schicksal, die Macht von Kleinigkeiten und davon, dass wir unserer Vergangenheit nicht entkommen können.

 

 

Inhaltsverzeichnis

    Ziemlich mies
    Das Experiment
    Carambolage
    Ein neues Leben
    Das Schicksal lächelt
    Margots Vorsatz
    Die dunkle Seite
    Am Limit
    Nähe wider Willen
    Magnetisch
    Schatten
    Ein Bett für zwei, dann Dunkelheit
    Freundinnen
    Ohne jede Freude
    Die Schlinge zieht sich zu
    Irgendein Zauber
    Die Türklinke in der Hand
    Fahrpläne
    Wie Kanonendonner
    Und ...

 

Leseprobe

Ziemlich mies

Er tastete nach dem schrillenden beigen Kasten, zog ihn zu sich ins Bett, grunzte, nestelte nach dem Hörer, drehte ihn um - verdammtes Naturgesetz, immer verkehrt herum. Seine Augenlider kratzten, als er versuchte, sie zu öffnen.

»Ja?« Er gab sich keine Mühe, weniger unwirsch zu klingen, als ihm zumute war.

»Chef, du musst mich kommen Hilfe.«

War das nicht Yunus, einer der türkischen Arbeiter aus der Firma? »Yunus ... was soll das?« Er blickte auf den Wecker und ließ sich gleich wieder ins Kissen zurücksinken. »Mann, es ist halb sechs!«

»Ich nichts könne dafür.« Warum klang der Kerl so weinerlich? Letztes Jahr hatten sie elf Gastarbeiter angeheuert, alle aus der Türkei. Es war keine so gute Idee gewesen, aber es waren sonst keine Leute zu bekommen. Und die meisten Deutschen hatten keine Lust, am Bau zu arbeiten. Aber was sollte man machen. Natürlich konnte Yunus nichts dafür. Es konnte sowieso nie jemand etwas dafür.

»Ja natürlich«, seufzte Bernhard und setzte sich auf die Bettkante. »Was ist los?«

»Ich stehe an Kreuzung bei die Hauptstraße, vorne bei Autohaus von die Opel. Habe Transport die Kran und Problem mit Kurve.«

»Was?« Bernhard kniff die Augen zusammen, jetzt kochte sein Ärger auf mittlerer Flamme. »Weil du Probleme mit einer Kurve hast, rufst du mich an? Jetzt, halb in der Nacht?« Er atmete tief durch, damit ihm keine Grobheit entkam. Wenigstens war er wach und das ohne Kaffee.

»Na weißt du, ich stecken fest ...«

Ruhig, sei ruhig, ermahnte er sich. Es war ihm schon klar, wo Yunus Probleme bekommen hatte. Vor dem Opel-Autohaus Benz machte die Straße einen Knick, dann waren da zwei mächtige Linden. Zum Glück war jetzt noch kaum Verkehr, denn diese Stelle konnte man nur großräumig umfahren.

»Yunus warte dort, ich komm rüber.« Damit legte er auf. ›Warte dort‹? So ein Blödsinn, was denn sonst! Na egal.

 

Eine halbe Stunde später sah er schon aus der Ferne das Debakel. Der Auflieger mit dem Kran war an sich ein beeindruckendes Ungetüm. In dem Bild aber, das sich Bernhard jetzt bot, wirkte er bedrohlich. Im wahrsten Sinn des Wortes turmhoch - oder richtiger: turmlang - steckte er verkeilt zwischen den beiden Linden und der Friedhofsmauer. So, als ob man einen Korken in einen Flaschenhals gesteckt hätte - komplett dicht.

Bernhard ließ seinen Alfa Romeo Giulia in der Einfahrt zur Tankstelle stehen. Nach ein paar Schritten drehte er sich noch einmal um und warf ihm - nein ihr, seine Geliebte Giulia war ja eine Sie - noch einen liebevollen Blick zu. Dann wandte er sich dem Desaster zu. Er zwängte sich durch die Lücke zwischen dem Krangerüst und der Linde und stand Yunus gegenüber. Der lehnte an der Fahrerkabine und rauchte eine Zigarette. Von seiner Panik am Telefon war nichts zu bemerken. Wie immer. Bernhard fühlte wieder Unwillen in sich aufsteigen. Zuerst arbeiteten die Kerle gedankenverloren vor sich hin - gedanken-verloren. Was heißt hier verloren? Noch nie welche gehabt. Egal. Sie wurstelten immer irgendetwas zusammen und dachten nicht die Bohne darüber nach, was sie taten. Wie jetzt eben.

»Ah, Chef, du machen!« Er grinste, offensichtlich erleichtert, die Verantwortung abgeben zu können. Wie praktisch. Er sollte jetzt also den Karren aus dem Dreck ziehen. Wieder einmal. Nein: wie eigentlich immer. Und das um sechs Uhr morgens.

Er kniff die Lippen zusammen, vergrub seine Hände tief in den Hosentaschen und umrundete die Fahrerkabine des Lastwagens. Da sah er das eigentliche Drama, das Yunus wohlweislich verschwiegen hatte. Einen Meter vor der Linde stand eine Telefonzelle. Bernhard erinnerte sich gut an sie, weil er hie und da von hier aus telefonierte. Sie lag in der Mitte der Strecke von seiner Wohnung zum Büro. Nur stand sie jetzt nicht. Sie lehnte in derselben Neigung an der Linde, in der sich Yunus an den Kotflügel gelümmelt hatte. Yunus hatte sie einfach mitsamt dem Fundament ausgerissen und dann leicht zerknautscht vermutlich im Rückspiegel entdeckt. Na, dem war wohl der Arsch ordentlich auf Grundeis gegangen! Trotz der unangenehmen Situation grinste Bernhard bei dem Gedanken, wobei er darauf achtete, dass Yunus seine Mimik nicht mitbekam. Abgesehen davon sah die zerknüllte, entwurzelte Telefonzelle komisch aus, urkomisch, so, als ob sie in die Faust eines zornigen Riesen geraten wäre. Dann zwang er wieder Ernst und Ärger auf sein Gesicht und drehte sich zu Yunus um, der ihm gefolgt war.

»Scheiße, Chef«, sagte der.

»Das kannst du laut sagen«, gab Bernhard zurück, um ein unwilliges Knurren bemüht. Diesen Gastarbeitern gegenüber durfte man nicht zu freundlich sein, sonst war man verkauft. »Setz dich hinein und setze zurück, ich dirigiere dich.«

Yunus nickte und kletterte in den Führerstand. Nach kurzem Starterwummern sprang der Diesel an und knirschend legte Yunus den Rückwärtsgang ein. Bernhard zuckte bei dem Geräusch zusammen und beobachtete, wie der Mann am Lenkrad kurbelte und wie die Vorderräder herumschwenkten - in die falsche Richtung. Er schüttelte den Kopf. Beim besten Willen konnte er sich den finsteren Schnauzbartträger eher als Gardeoffizier oder Bürgermeister einer türkischen Kleinstadt vorstellen, denn als Fahrer eines zwanzig Meter langen Nadelauslegers.

»Yunus«, rief er, »verdammt, anders herum!« Dazu gestikulierte er wild mit den Armen. »Anders! Anders herum!« Doch Yunus saß oben in seiner Kabine, blickte mit konzentriert zusammengekniffenen Augen in den Rückspiegel und schon ruckelte der Zug nach hinten. Die Telefonzelle knirschte. Mit der flachen Hand, dann mit der Faust hieb Bernhard auf den Kotflügel, spürte gleichermaßen, wie ihm die Hand brannte und die Zornesröte ins Gesicht schoss. Doch Yunus schob den Lastwagen zentimeterweise nach hinten. Bernhard rannte um das Führerhaus, sprang auf das Trittbrett und hämmerte mit der Faust ans Fenster. Erschrocken wandte sich Yunus herum und der Zug kam mit einem bockigen Hopser zum Stehen. Du liebe Güte, wenigstens hatte er ihn jetzt abgewürgt. Bernhard sprang hinunter auf den Asphalt und winkte Yunus, auszusteigen. Kaum war der vom Trittbrett gesprungen, kletterte er schon selbst hoch und ließ sich hinters Lenkrad fallen. Warum hatte er es nicht gleich selbst getan? In der Firma müsste er einmal nachsehen, ob der Kerl überhaupt einen LKW-Führerschein hatte. Er blieb kurz sitzen. Warum regte er sich so auf? Das tat er doch sonst nicht! Was war los? Egal. Er seufzte und legte die Hand auf die Gangschaltung. Jetzt galt es erst einmal, keinen noch größeren Schaden anzurichten. Der Auflieger stand leicht schräg, so konnte er im Rückspiegel nicht bis zu der Stelle sehen, wo der Zug stecken geblieben war. Dorthin, wo auch der interessante Rest der Telefonzelle stand. Er kurbelte das Fenster herunter und rief Yunus zu, er solle ihn einweisen. Der nickte eifrig und lief auf die Beifahrerseite hinüber. Allerdings so nahe ans Auto, dass Bernhard ihn nicht sehen konnte. Er schnaubte, machte den Mund auf und wollte schon etwas hinausrufen, besann sich aber, dass er nicht gehört würde, und schloss ihn wieder. Und wieder kochte der Zorn in ihm hoch. Zum Glück waren nicht alle so ... so ... so saudämlich. Er sprang hinaus, umrundete das Auto, übersah Yunus’ erstaunten Blick, nahm Maß, kletterte hinein, fuhr ein Stück zurück und wiederholte den Vorgang ein paar Mal. Es war ihm einfach zu dumm, Yunus zu erklären, was er wollte. Bernhard kochte.

Schließlich war er ein ganzes Stück zurückgefahren und die beiden Linden tauchten hüben und drüben der Fahrerkabine auf. Das Schlimmste war geschafft.

Er ließ den LKW zügiger nach hinten rollen. Rechts außen sah er mit einem Mal Yunus heftig mit den Armen fuchteln und ein entsetztes Gesicht machen. Ja, schon gut, auf ihn würde er ganz sicher nicht mehr achten. Sollte der doch selbst einmal fahren lernen. Allerdings ...

Er bremste das Fahrzeug ab und stieg aus.

»Chef ... Chef ...«, stammelte Yunus und deutete nach hinten. Was sollte jetzt schon wieder sein?

Und dann sah er es.

Es zog ihm den Magen zusammen. Dieses Gefühl, bei dem die Umwelt wegschnellt, als ob einen eine Gummischnur hundert Meter ins Nirgendwo zöge. Das Gefühl, bei dem Umstehende sagen, um Himmels Willen, was ist denn los, er ist ja weiß wie ein Laken!

Mit unsicheren Schritten ging er auf sie zu. Auf seine Giulia, seine schwarze Geliebte. Der Alfa Romeo, den er vor drei Wochen erhalten hatte, eines der ersten Stücke in Deutschland, brandneu und brandheiß, stand nun vor ihm. Ohne Heck. Denn das war unter dem Ausleger verschwunden, der so aussah wie ein Hund, der sein rechtes hinteres Bein angehoben hatte um ... nun ja. Hätte er nur auf Yunus’ verzweifeltes Winken geachtet und sich nicht so in seinen Zorn verbohrt. Was für ein Tag. Was für ein beschissener, beschissener Tag!

 

Das Experiment

Bernhard erinnerte sich nicht, wann er sich das letzte Mal so hatte zusammennehmen müssen. Er hätte schreien und wild mit den Fäusten auf irgendetwas eindreschen mögen. Nur war er leider nicht allein. Wollte er nicht zur absoluten Lachnummer werden, musste er diesen Tiefschlag wegstecken, ohne mit der Wimper zu zucken. Wie Marlon Brando in Meuterei auf der Bounty. Auch wenn es schon zwei Monate her war, dass er diesen Film gesehen hatte - es war ihm gelungen, eine Karte zur Premiere zu ergattern - konnte er sich noch Szene für Szene daran erinnern. Wenige Tage darauf hatte er ihn noch einmal angesehen, so beeindruckt war er gewesen. Dieser Fletcher war schon ein verdammt lässiger Knabe! Innerlich klopfte sich Bernhard auf die Schulter, dass ihm dieser Vergleich im rechten Moment eingefallen war. Es kostete ihn kaum Mühe, Yunus gleichmütig zu deuten, er solle auf dem Beifahrersitz Platz nehmen. Mit wenigen Schritten war er bei seiner Giulia und nahm die wichtigsten Unterlagen heraus. Abschließen konnte er nicht, denn der Rahmen war hoffnungslos verzogen.

Sei wie Fletcher, sprach er sich Mal für Mal zu und hätte beinahe gegrinst, als er sich unversehens für jede Wiederholung eine Rosenkranzperle durch die Finger schieben sah. Behände schwang er sich über das Trittbrett in die Führerkabine und warf die Papiere zwischen sich und Yunus. Wummernd kam Leben in den Lastzug und kraftvoll bullerte der schwere Diesel vor sich hin. Yunus würdigte er trotzdem keines Blickes, denn unerfreulicherweise verlor die Fletcherformel zusehens ihre Wirkung, als sich ihm das Bild seines geliebten, zerknautschten Autos aufdrängte. Mit einem entschiedenen Ruck legte er den Gang ein, ließ die Kupplung kommen und ächzend setzte sich der Zug in Bewegung.

So hatte er sich vergangene Nacht diesen Tag wahrlich nicht vorgestellt, als er gespannte Stunden vor seiner Badewanne verbrachte.

 

Neun Stunden war es her, als Bernhard bereits seit einer Stunde vor der Badewanne kniete. Die Kälte, die von den Fliesen in seine Beine zog, bemerkte er kaum. Das Kinn auf den Wannenrand gestützt, nagte er an seiner Unterlippe und blickte einmal auf den Wasserstrahl, der in den vorderen Wannenbereich rauschte, dann wieder ins Wasser selbst. Als sein Blick die Gerätschaft streifte, die die Wanne in zwei Bereiche teilte, wanderten seine Mundwinkel in die Höhe, während er spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte.

Er schien es doch tatsächlich geschafft zu haben.

Wie sehr hatte er auf diesen Moment hingearbeitet!

Jahrelang hatte er Möglichkeiten abgewogen, Konzepte erstellt und verworfen, Bücher gewälzt und einen großen Teil seines Verdienstes in seine kleine Werkstatt investiert. Wie oft hatte er sich schlaflos bis ins Morgengrauen im Bett gewälzt, von Zweifeln zerfressen. Sollte er tatsächlich nichts auf die Reihe bringen?

In seinem eigentlichen Beruf galt er als durchaus erfolgreich - wenn auch in begrenztem Rahmen. Und genau diese begrenzten Möglichkeiten verschafften ihm manchmal Atemnöte, als wäre er ein Klaustrophobiker in einem Aufzug. Immer der gleiche Ablauf: Eine neue Idee und er fühlte sich wie ein Schiffbrüchiger beim Erspähen einer Planke. Und dann die Enttäuschung, wenn sich diese als viel zu klein oder gar als Illusion entpuppte. Hoffnung - Enttäuschung. Entwickeln - verwerfen. Er hatte sich so ausgelaugt gefühlt und mit jedem Fehlschlag kam er sich noch unfähiger vor. Er war so weit gewesen, aufzugeben. So weit, sich mit einem endgültigen Scheitern zu beschäftigen, war er bisher allerdings nie gegangen, denn die Leere, die er dahinter fühlte, kam ihm schlimmer vor als der Tod selbst. Doch vor wenigen Monaten war ihm diese geniale Idee zugefallen. Er spürte, an einem, nein, dem wichtigsten Punkt angekommen zu sein: Alles oder nichts. Absturz oder Sieg.

»Ja«, flüsterte er. »Es funktioniert!« Freude verdrängte zunehmend seine Zweifel, und zum ersten Mal seit dem Tod von Henni vor sieben Jahren spürte er so etwas wie ein Glücksgefühl. Sein größter Wunsch schien tatsächlich in Erfüllung zu gehen!

In diesem Augenblick flackerte ein rotes Licht oben auf dem Apparat.

»Strom ...« Bernhard war so ergriffen, als ob er sein Neugeborenes erstmals in den Armen wiegte. Nun, ein wenig war es ja auch so.

Seine linke Hand glitt ins Wasser, vor lauter Aufregung vergaß er, vorher den Ärmel seines Hemdes nach oben zu schieben, und tastete sich unter die Maschine. Ein neuer Schwall von Begeisterung durchströmte ihn - er spürt den Sog. Viel stärker als erwartet!

»Verdammt«, schrie er plötzlich auf, Wasser spritzte durchs halbe Badezimmer, als er die Hand aus der Wanne riss und auf seinen blutenden Zeigefinger blickte. »Mist, verflixter!« Dennoch blieb er vor der Wanne knien, saugte, schon wieder gedankenverloren, das Blut weg und blickte verträumt auf sein Werk. Hatte ihn das Ding doch tatsächlich in den Finger gebissen. Er grinste breit bei dem Gedanken. Er war schon auf Edgars Gesicht gespannt. Morgen Abend im Carambolage. So eine Kraft, das hätte er nie vermutet. Aber er hatte gewusst, dass es funktionieren würde! Jetzt, so im Nachhinein betrachtet. Liebevoll blickte er auf sein Gerät, während ihm visionäre Bilder durch den Kopf gingen wie im Kino.

Als er versuchte, aufzustehen, schoss Schmerz durch sein Knie. Kein Wunder nach einer Stunde nahezu bewegungslosen Kniens auf den Fliesen. Er schüttelte den Kopf, verzerrte das Gesicht, grinste aber trotzdem. Hatte er doch tatsächlich den harten Boden ausgeblendet! Schwer stützte er sich auf den Wannenrand, rutschte ab, prallte auf den Apparat, verschob ihn ein Stück, und ein Schmerz im Handballen schoss seinen Unterarm hoch, der den im Knie mit Leichtigkeit überbot. Schnaubend und mit zusammengepressten Lippen zog er den Hocker unter dem Waschbecken hervor und ließ sich darauf fallen. Abwechselnd saugte er am Zeigefinger, knetete die Hand und massierte sein Knie.

Aber alles das war unwichtig. Von Belang war einzig und allein seine Erfindung, und wieder flüsterte er: »Es funktioniert. Hat man Töne, es funktioniert. Na ja, eigentlich konnte es ja unmöglich anders sein. Und trotzdem ...« Er beugte sich vor, stoppte den Wasserzulauf, atmete tief aus und rutschte mit dem Hocker ruckweise zurück, bis er ein herunterhängendes Handtuch zwischen sich und der Wand spürte. Wieder und wieder kreiste der Gedanke durch seinen Kopf: Er war am Ziel. Er hatte etwas wirklich Wichtiges geschaffen. Endlich! Das hätte sein Vater mitbekommen sollen. Er hätte mit Sicherheit seine abschätzige Meinung von ihm revidieren müssen! ›Bub, du musst was Sinnvolles tun!‹, hatte er immer gesagt, als er bemerkt hatte, wie sich Bernhard zur Kunst und Architektur hingezogen fühlte. ›Vergiss diese Träume, das schaffst du ohnehin nie. Du studierst Bauingenieurwesen, klar? Du bist viel zu unbegabt für etwas wirklich Großes.‹ Zweiundvierzig Jahre hatten ins Land ziehen müssen, bis er wusste, dass das nicht stimmte. Viel zu lange. Nun ja, dass es definitiv nicht stimmte, würde er erst dann erfahren, wenn sein Modell auch im Großen eingesetzt wurde.

Mit einem trotzigen Kopfschwung warf er seine Haare aus der Stirn und die Gedanken an seine Kindheit zurück in die Vergangenheit, wo sie hingehörten. Jetzt galt es, sich mit der Zukunft zu beschäftigen. Er würde die Sache in großem Stil aufziehen. In Frankreich wären die Bedingungen optimal. Oder Spanien? Portugal?

 

Keine halbe Stunde später, zehn Minuten vor Mitternacht, lehnte sich Bernhard auf die Brüstung seines Balkons. Seine Knie pochten, aber sein Herz schlug wild und begeistert. Es war einer jener Abende, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie noch zum Sommer oder schon zum Herbst halten wollten. Er spürte immer wieder aggressive, kalte Luftzüge in der sonst noch runden Wärme der Herbstnacht. Ein paar Wolken spielten mit dem Mond. Manchmal gewannen sie, dann wieder er. So wie das Schicksal mit ihm gespielt hatte. Immer einen Schritt vor und zwei zurück, so war es ihm vorgekommen. Einen kleinen Erfolg trotzte er ihm ab und dann warf es ihn spielend wieder zurück auf Start. Und zwar, ohne viertausend Mark nehmen zu dürfen. Oft hatte er bis weit nach Mitternacht an seinen Erfindungen gesessen und den Großteil seines guten Gehalts und der Überstundenvergütung in diese Projekte investiert.

Vier Stockwerke tiefer war zuerst das Klappern von Schuhen einer Frau zu hören, bevor ein Paar drüben bei der Kreuzung in den Lichtkreis der Straßenlaterne trat. Sie schlenderten Hand in Hand über den Bürgersteig. Beim Eingang des Nebenhauses blieben sie stehen. Die Frau war aus seinem Blickfeld verschwunden, von ihm sah er gerade noch den Rücken. Nun verschwand auch der langsam. Jetzt küssten sie sich gewiss. Ein Wagen blieb drüben bei der Stopptafel stehen und fuhr gleich darauf wieder an. Ließ die Kupplung viel zu lange schleifen.

Bernhard seufzte. Sieben Jahre ... eine lange Zeit. Und doch war mit seinem Beruf, aber vor allem der Beschäftigung mit seiner genialen Idee, die Zeit wie im Flug vergangen. Die Gedanken daran wirkten auf ihn wie ein Kerzenlicht in einem dunklen Keller. Die innere Dunkelheit zog sich widerwillig zurück und er spürte, wie ihn eine neue Kraft aufrichtete, als er an den heutigen Erfolg dachte. Jetzt, da ihm der Durchbruch gelungen war, würde sich auch seine private Situation zum Guten wenden. Er war zuversichtlich. Die Rollen waren nun einmal so verteilt, dass bei Männern zählte, was sie leisteten. Indirekt hatte ihn sein Vater angespornt mit seinem ständigen ›du bringst eh nichts auf die Reihe‹. Henni hatte sich zwar nie beschwert, obwohl sie an seiner Seite ein etwas kümmerliches Leben geführt hatte. Er wollte teilhaben an dem immer noch gewaltigen Aufschwung, jetzt, siebzehn Jahre nach Kriegsende. Und er hatte das Zeug dazu. Das konnte man ja an dem Ding sehen, das in der Badewanne stand. Unglaublich! Das war er gewesen! Grinsend schüttelte er den Kopf.

Er drehte sich um, durchquerte das Wohnzimmer und trat kurz darauf mit Zigarette und Feuerzeug wieder hinaus. Rasch drehte er sich zurück zur Balkontür, neigte sich vor, hielt die hohlen Hände um das Feuerzeug. Trotz des Schutzes flackerte die Flamme, als wollte sie forthüpfen, ungeduldig und ungehorsam. Doch sie hatte den Tabak mit ihrer Glut infiziert, die sich gleich darauf durch die Krümel weiterfraß. Zuerst begehrte sie gegen den Luftzug auf, den sein Saugen auslöste, gab auf, kletterte zuerst schräg, dann gleichmäßig weiter um das ganze Rund, von dem ein leiser Rauchfaden unstet fortzog. Schon interessant: Man stieß irgendetwas an und dann pflanzte es sich fort. Drucklos entließ Bernhard die nebelige Luft aus seinen Lungen, beobachtete, wie sie der Wind im Vorbeifliegen mitnahm und beide dünner und ferner wurden. Die Natur, unglaublich, alles war vorhanden, nur wir waren zu blöd, es zu verstehen. Er war aber nicht zu blöd, würde ihr noch und noch Geheimnisse entlocken. Man würde noch staunen über ihn. Langsam beruhigte sich sein Herzschlag. Hoffentlich konnte er schlafen.

 

Mit Zeigefinger und Daumen schnipste er die Kippe auf die Straße hinunter, atmete einmal tief ein- und aus, dann ging er hinein, und schloss die Balkontür. Er stieß ein unwilliges Murren aus, als ihm der Hebel der Tür aus der Hand glitt, sie schwer auf ihre Führungsschiene polterte und der Griff hochschnalzte. Das hatte man sicher die ganze Straße entlang gehört. Noch mehr Probleme mit den anderen Mietern brauchte er beileibe nicht. Immer wieder hatten seine handwerklichen Arbeiten zu Konflikten geführt: Zu laut gehämmert, zu lange gebohrt. Vielleicht hätte er das Angebot seines Chefs annehmen sollen, in einer Ecke der Lagerhalle zu arbeiten. Aber er hatte lieber alles hier zu Hause bei sich gehabt, weil er so seine Zeit am besten nutzen konnte.

Gerade wollte er sich im Bett in die Waagerechte sinken lassen, als er brummend wieder aufstand und das Telefon aus dem Wohnzimmer holte. Nachts hatte er es gerne neben dem Bett stehen. Er hatte keine Lust, schlaftrunken durch die halbe Wohnung zu torkeln, wenn ihn jemand anrief. Und das kam vor. Entweder sein Chef, der wieder einen seiner Gedanken loswerden musste oder einer der Arbeiter. Oder das Krankenhaus, in dem zurzeit sein Vater lag. Er war mit Vierundachtzig beim Pflücken der Pflaumen seines einzigen Baums im Garten daheim von der Leiter gestürzt und laborierte nun nebst einem Oberschenkelhalsbruch an einer Lungenentzündung. Und das sechshundert Kilometer weiter südlich. Der Sturkopf. Bernhard knallte das Telefon auf den Nachttisch neben den Wecker, ließ sich nach links ins Bett fallen und zog die Decke bis unter die Nase. Die Gedanken ließen ihm keine Ruhe. Badewanne. Frankreich. Vielleicht Spanien?

 

 

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